Einkommensungleichheit, Wahrnehmung und Demokratie

Dr. Tobias Thomas                        Direktor

Zu vielen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik können Ökonomen einen wissenschaftlich fundierten Beitrag leisten. Bei der Frage nach dem „richtigen“ Niveau der Umverteilung ist das nicht der Fall. Diese kann nur der Wähler beantworten. Umso wichtiger ist, dass die Debatte auf einem soliden Faktenfundament erfolgt. In vielen Ländern unterscheidet sich die wahrgenommene Ungleichheit von den tatsächlichen Verteilungsstatistiken. So vermuten 44 Prozent der Österreicher und 54 Prozent der Deutschen die meisten ihrer Mitbürger in der untersten Gesellschaftsschicht, obwohl tatsächlich in den beiden Ländern die Mittelschicht die größte Gruppe der Bevölkerung darstellt. Zudem werden die Einkommensverhältnisse als zunehmend ungleicher wahrgenommen, obwohl die Einkommensverteilung nach Steuern und Transfers in Österreich und Deutschland nach verschiedenen Verteilungsmaßen, wie dem Gini-Koeffizient, dem P90/P10- und dem S80/S20-Verteilungsmaß, in den letzten zehn Jahren weitgehend unverändert geblieben ist. In Österreich hat die Einkommensungleichheit sogar eher eine leicht rückläufige Tendenz. Auch wird kräftiger umverteilt als anderswo. „Das Umverteilungssystem in Österreich funktioniert“, sagt Tobias Thomas, Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria. „Im internationalen Vergleich reduzieren Steuern und Transfers die Ungleichheit ganz erheblich“, so Thomas. So liegt die Einkommensungleichheit Österreichs nach Steuern und Sozialtransfers unter den 20 OECD-Gründungsstaaten auf der fünftniedrigsten Position. Nur in Belgien, Dänemark, Island und Norwegen ist sie noch etwas geringer. Bei der dargestellten Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und wahrgenommenen Ungleichheit ist weniger überraschend, dass viele Bürger die Einkommensverteilung schlecht oder gar nicht einschätzen können. Im Gegensatz zu beobachtbarem Konsumverhalten von Nachbarn, Kollegen oder Freunden ist die Einkommensverteilung in der Gesamtgesellschaft keine unmittelbar beobachtbare Größe. Es ist hingegen überraschend, dass die Österreicher und die Deutschen die Einkommensungleichheit nicht zufällig unter- und überschätzen, sondern mehrheitlich ein zu pessimistisches Bild der gesellschaftlichen Ungleichheit haben. Bei einer Analyse von über 300.000 Interviews aus dem deutschen Sozioökonomischen Panel (SOEP) im Zeitraum 2001 bis 2015 und rund 640.000 Berichten aus deutschen Medien fällt zunächst das gestiegene Interesse an dem Thema Ungleichheit auf. Machten Berichte zur Ungleichheit und verwandten Themen von 2001 bis 2012 durchschnittlich 0,45 Prozent aller Medienberichte aus, waren es in den Jahren 2013 bis 2015 im Durchschnitt 0,8 Prozent. Insgesamt verdreifachte sich zwischen 2001 und 2015 der Anteil der Berichterstattung zum Thema Ungleichheit. Bemerkenswert ist, dass auch ab 2005 der Anteil der Ungleichheitsberichterstattung nahezu kontinuierlich angestiegen ist, obwohl sich weder die Ungleichheit vor noch nach staatlicher Umverteilung signifikant verändert hat. Zudem zeigen ökonometrische Analysen, dass eine intensivere Berichterstattung zum Thema Ungleichheit die Sorgen der Bevölkerung zumindest kurzfristig erhöhen kann. Dies deutet auf die besondere Verantwortung von Medien in Demokratien hin. Aufgrund der Datenverfügbarkeit basiert die Untersuchung auf deutschen Daten. Vieles spricht allerdings dafür, dass sich die Resultate zumindest qualitativ auf andere Länder übertragen lassen. Bei ähnlichem ökonomischen Entwicklungsstand, ähnlichem kulturellen und institutionellen Hintergrund sowie einer ähnlichen geografischen Lage liegt dies besonders nahe.