Kurzanalyse 11: Reformstau bei der deutschen Einkommensteuer

Mag. Ludwig Strohner                    Leiter des Forschungsbereichs Öffentliche Finanzen

„Die deutsche Volkswirtschaft wächst im Schneckentempo. So hat das Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 0,6 Prozent zugelegt und auch für das Jahr 2020 wird lediglich mit einem geringfügig höheren Wachstum gerechnet. Davon ist auch Österreich betroffen, denn rund 30 Prozent der Ausfuhren gehen nach Deutschland. Zugleich realisiert Deutschland seit Jahren massive Budgetüberschüsse, die im letzten Jahr rund 50 Milliarden ausmachten. Dabei herrscht erheblicher Reformstau bei der deutschen Einkommensteuer“, sagt Tobias Thomas, Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria. So hat Deutschland seit mehr als 5.000 Tagen keine größere Reform der Lohn- und Einkommensteuer durchgeführt. In Österreich sieht das aktuelle Regierungsprogramm hingegen die Senkung der ersten drei Stufen der Einkommensteuer von 25 auf 20, 35 auf 30 bzw. 42 auf 40 Prozent vor.

In Deutschland ist trotz regelmäßiger Anpassungen des Grundfreibetrags und der übrigen Tarifeckwerte die steuerliche Belastung der privaten Haushalte seit 2010 stetig angestiegen. Der Grund ist die Kalte Progression, die nicht zur Gänze ausgeglichen wird. Im Jahr 2010 machten die Einnahmen aus Lohn- und Einkommensteuer in Deutschland 7 Prozent des BIP aus, im Jahr 2018 waren es bereits 9 Prozent des BIP. Dieser Anstieg ist verbunden mit einer deutlichen Einschränkung der Konsummöglichkeiten der privaten Haushalte. „Würde die Belastung durch die Lohn- und Einkommensteuer dem Durchschnitt der Jahre 1999 bis 2010 entsprechen, dann hätten die privaten Haushalte in diesem Jahr mehr als 55 Mrd. Euro zusätzlich für ihren Konsum zur Verfügung. Dies wäre mit erheblichen Auswirkungen für Wachstum und Beschäftigung verbunden“, so Thomas. So zeigen Berechnungen des Wirtschaftsforschungsinstituts EcoAustria, dass allein die beschlossene Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags bei der Lohn- und Einkommensteuer mit einem Volumen von 10 Mrd. Euro mittelfristig die Wertschöpfung und die Beschäftigung um 0,3 Prozent bzw. 0,25 Prozent höher ausfallen lässt. Eine vollständige Abschaffung des Solis wäre mittelfristig sogar mit einer 0,45 Prozent höheren Wertschöpfung und einer 0,35 Prozent höheren Beschäftigung verbunden.

„Insbesondere vor dem Hintergrund der derzeit schwachen wirtschaftlichen Entwicklung gerade in Deutschland und den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen z.B. im Zusammenhang mit Klimapolitik und Strukturwandel, wäre eine wachstums- und beschäftigungsförderliche Steuerreform angezeigt“, erläutert Thomas. Die in Österreich geplante Reform der Einkommensteuer geht daher in die richtige Richtung. Zudem zeigt Deutschland, dass die dortige regelmäßige Tarifanpassung nicht ausreicht, die Kalte Progression vollständig auszugleichen. Erst durch eine jährliche Anpassung des Tarifverlaufs an die durchschnittliche Lohnentwicklung kann die schleichende Mehrbelastung der Haushalte vollständig verhindert werden, so das Fazit einer heute veröffentlichten EcoAustria-Kurzanalyse.