Wirtschaftsbildung ist kein Luxus

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen“. Diesen Tweet verfasste 2015 eine damals 17-jährige Schülerin aus Deutschland. Sie löste damit eine Debatte aus, die sogar Regierungskreise erreichte. Wer heuer in die aktuellen Lehrpläne schaut, wird freilich enttäuscht sein. Geändert hat sich seither nämlich nicht viel.

Wissen kann Leben retten. Wir erleben ja gerade, wie Naturwissenschaften wieder an Bedeutung gewinnen. Sogar Erwachsene lesen noch einmal nach, was sie längst vergessen – oder auch nie gelernt – haben. Denn wer die Corona-Pandemie verstehen will, muss wissen, was Viren sind, was exponentielles Wachstum bedeutet und wie Statistik funktioniert. Wer sich eine Meinung zum Thema Impfungen bilden möchte, muss nachvollziehen, was ein mRNA-Impfstoff kann. Und vielleicht mag eine gute Wirtschafts- und Finanzbildung nicht ganz so wichtig sein. Aber ein grundsätzliches Verständnis über Mieten und Eigentum, Steuern und Schulden sowie Zinsen und Inflation, kann sich trotzdem spürbar auf die eigene Lebensqualität auswirken.

Eine Umfrage von Prof. Bettina Fuhrmann, Leiterin des Instituts für Wirtschaftspädagogik an der Wiener Wirtschaftsuniversität, durchgeführt unter Kindern in der vierten Klasse, zeigt allerdings gravierende Mängel im Wirtschaftsverständnis von Schülerinnen und Schülern: Sechs von zehn Kindern glauben, dass höhere Mindestlöhne für eine geringere Arbeitslosigkeit sorgen könnten. Ebenfalls sechs von zehn sind der Meinung, dass der Staat entscheidet, was hierzulande importiert und exportiert wird. Viele junge Menschen, auch Erwachsene, wissen kaum, was Zinsen, Zinseszinsen und Finanzprodukte sind.

Na gut, wird der eine oder andere jetzt vielleicht sagen, ist das denn wirklich ein Problem? Natürlich. Es macht nämlich einen Unterschied, ob man dreißig Jahre lang jeden Monat 20 Euro für die Kinder in ein Sparschwein steckt oder bei durchschnittlich 9 Prozent Rendite in ETFs, also „Exchange Traded Funds”, investiert: 7.200 Euro versus 38.800 Euro. Das Prinzip des exponentiellen Wachstums schlägt in Finanzfragen genauso zu wie in einer Pandemie. Aber nur wer etwas weiß, kann auch gute Entscheidungen treffen. Und Geld, das wird niemand ernsthaft bestreiten wollen, schafft Handlungsspielräume.

Das gilt auch abseits der Finanzbildung. Ohne wirtschaftliche Grundbildung ist es nicht möglich, Versprechen und Projekte der Politik einzuordnen: Sind sie realistisch und geeignet, das zu bewirken, was wir uns wünschen? Wenn „die da oben“ versprechen, mehr auszugeben und gleichzeitig die Steuern zu senken, dann muss man wissen, dass Defizite von heute die Steuern von morgen sind. Und wer fordert, dass eine Steuer für Unternehmen dazu genutzt werden soll, um Ausgaben an anderer Stelle zu finanzieren, der muss sich im Klaren darüber sein, dass solche Steuern in der Regel an ihn, den Konsumenten, weitergegeben werden. Wirtschaftliche Bildung hilft uns außerdem zu begreifen, was in der digitalen Welt passiert: Social Media Plattformen, die „gratis“ Dienstleistungen anbieten, verdienen ihr Geld mit Daten und Werbung. Zu einer guter Allgemeinbildung gehört auch die Erkenntnis, dass es so etwas wie „gratis“ gar nicht gibt.

Viele Forscher, darunter auch Prof. Fuhrmann, sowie Interessensvertreter, Banken und Unternehmer setzen sich seit langem für ein eigenständiges Fach „Wirtschaft“ in den Schulen ein. Diese Lösung würde mehr Raum schaffen, um die Themen Wirtschaft und Finanzwesen deutlich umfänglicher zu vermitteln als das bislang passiert. Kritiker dieser Idee sehen dabei die Gefahr einer „Neoliberalisierung“. So brauche es kein Fach Wirtschaft, sondern „ein gemeinsames Weiterarbeiten für eine plurale, gesellschaftlich kontextualisierte ökonomische Bildung“ (Christian Fridrich, Der Standard 7.10.2020). Wie das konkret aussehen könnte, bleibt unklar, aber es ist immerhin begrüßenswert, dass dies auch pluralistisch geschehen soll. Denn tatsächlich kann von Pluralismus in den Schulbüchern heute vielfach keine Rede sein – nicht etwa wegen zuviel „Marktfundamentalismus“, sondern im Gegenteil: Wirtschaft und Markt werden mitunter sehr einseitig negativ dargestellt und manchmal sogar mit fachlichen Fehlern garniert: So kann man etwa im Buch „Geospots“ nachlesen, dass die Globalisierung die Armut weltweit erhöht hätte –  Fakt ist, dass die weltweite Armut seit Jahrzehnten drastisch sinkt. Man findet überdies an einigen Dutzend Stellen den Kampbegriff „Neoliberalismus“, ohne weitere Erklärung, was damit eigentlich gemeint ist. In anderen Büchern, wie etwa dem „Durchblick“ für die 3. Klasse, wird den Kindern der Begriff der Inflation falsch erklärt. Das wäre in der Tat ein echtes Argument gegen eine Entwicklung von Wirtschaft als eigenes Schulfach: Es könnten noch mehr Bücher geschrieben werden, die das bereits vorhandene Nichtwissen weiter verstärken.

Wer nicht verstanden hat, wie Wirtschaft funktioniert, der wird sich „dem System“ immer nur ausgeliefert fühlen. Der kann sich nicht selbstbestimmt darin bewegen, nichts gestalten, nicht handeln – der hat ein Werkzeug in der Hand, von dem er nicht weiß, wie er es benutzen soll. Eine gute, ausgewogene Wirtschaftsbildung als Teil der Grundbildung für alle Kinder und Jugendlichen während der Pflichtschulzeit ist deshalb keine elitäre Forderung, sondern eine, die der Generation unserer Kinder Teilhabe ermöglichen soll, Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten, kurzum: ein Leben als mündige Bürger.